Ein Gebet in der Nacht

2–3 Minuten

Dienstag, den 19. Mai 1925

Die Abende dürfen nicht sein, denn dann erwacht die Sehnsucht.

Ich stehe am Fenster, schaue nach Westen, wo die Sonne blutrot verschwand, und denke an Hannover. Mein Leben zieht in Bildern an mir vorbei. Ich nehme meine Gitarre, doch statt hell und fröhlich zu singen, zieht es mich innerlich nieder, und leise kommt es über meine Lippen:

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Schade, dass ich zu diesem Lied keinen Ursprung finden konnte. Es scheint in Vergessenheit geraten zu sein..


Unten ist Besuch. Der Baron hat Leo König mitgebracht, der ihn malen soll. Alle sind in großer Toilette (Abendgarderobe), und ich sitze mit dem Kinde hier.

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Wir beteten zusammen. Ich saß an ihrem Bettchen, die Vorhänge zugezogen, und sie hatte die Arme um meinen Hals geschlungen. Da hörte ich Schritte und dachte, es wäre Liesbeth. Doch wer zieht da die Vorhänge auseinander? Der Baron. Er lachte, fasste unsere Hände und wollte mich herausziehen, aber Sabine hielt mich fest: „Du sollst nicht weg! Nein, du bleibst hier.“

Er blieb stehen, sah uns an und gab dem Kinde zärtliche Küsse. Schließlich konnte ich mich und Sabine befreien und sprang heraus. Da sagt der Baron seiner Tochter nochmal gute Nacht und dann mir. Danach waren wir wieder allein.

Es ist wahr, hier muss man Einkehr bei sich selbst halten.

Irgendwie wirkt der Baron aufdringlich. Warum will er Hedwig rausziehen? Um Sabine gute Nacht zu sagen? Hm..


Gestern Abend war schrecklich. Ich war todtraurig zu Bett gegangen. Daran war wohl auch meine Lektüre schuld: die Geschichte von Friedemann Bach und seinem elenden Leben. Ich lag im Bett und starrte die Decke an. So allein – war ich denn wirklich so allein?

Ist nicht einer dort oben, dem es gleich ist, ob man reich oder arm, adlig oder bürgerlich ist? Einer, der einen nicht zurückstößt, wenn man zu ihm kommt? Meine Hände falteten sich, ein Seufzer entfloh mir. „Hilf mir, Allmächtiger Gott, verlass mich nie, auch wenn alle mich verlassen.“

Er muss mich gehört haben, muss meine Träume gesehen haben. Ich machte Licht, schlug die Bibel auf und las aus Lukas 18:

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Und ich lese und lese. Die Tränen versiegen und mein Herz wird fröhlich. Es jubelt.

O du Allerbarmer, Dank für dieses Wort. Niemand soll ihn mir nehmen! War Friedemann Bach deshalb so unglücklich, weil er nicht zu Gott finden konnte?

Draußen herrscht finstere Nacht, und in den hohen Bäumen rauscht der Wind. Allen lieben Menschen ein herzliches „Gute Nacht.“

Ich kann es zwar nicht nachvollziehen, da ich nicht religiös bin, aber es freut mich, dass Hedwig in dieser Einsamkeit Hoffnung in Gott findet.


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