

Donnerstag, den 28. Mai 1925

Das Kind kommt gerade heraus: „Ich will auch um Onkel Uli trauern.“
Und jetzt höre ich sie nebenan singen, nachdem sie mich lange hatte raten lassen, welche Bluse sie wohl anziehen würde.
Alle sind wieder da. Morgen ist die Beisetzung. Und ich fahre am Samstag nach Hause, nach Hause, nach Hause!
Deswegen gibt es bis zum 13.06. keine neuen Einträge. Leider schreibt Hedwig nur, wenn sie in Adelebsen ist. Vielleicht war zu viel zu tun in Hannover. Tut mir leid, für die lange Pause. Habt ihr vielleicht Ideen, wie ich die Zeit überbrücken könnte?
Heute kam ein Brief von Liesel: sie will mir ihre ganze Zeit widmen. Und Marie Reichert holt mich hoffentlich von der Bahn ab. Ich komme erst nachmittags an.
Gestern schrieb Idel einen rührenden Brief. Ich darf sie aber auch nicht wieder warten lassen. Ich bin doch glücklich, dass sie mich so liebt.
Auch Mäusel hat geschrieben. Ihre Briefe haben immer etwas Sentimentales – sie möchte gern, aber wagt doch nicht. Sie stellt Fragen zu meinem Innenleben, die als meine Freundin berechtigt sein sollten. Dabei fühle ich immer dieses Mitleid zwischen den Zeilen, dass mich abstößt. Es war schon früher so, als sie mir ihre Freundschaft aufzwang. Damals widerstrebte mir jede Berührung ihrer Hand oder ihres Arms – es fühlte sich so unfest, so haltlos an. Mit der Zeit wurde es besser. Die körperliche Abneigung ist wohl verschwunden, aber das andere Gefühl ist geblieben. Woher kommt das nur?
Ganz anders ist es mit Rudolf. Seine Art und Weise fordert in mir geradezu den Kampf heraus. Ich möchte ihn wirklich mal so richtig vermöbeln.

Ob Marie wohl Pfingsten in Hannover ist? Dieses Menschenkind schreibt mir überhaupt nicht! Und Anna, die Teure, hat die arme Idel wieder zwei Tage lang mit ihre und Lottes Schönheit geplagt. Alberne Reden!
Mehr Infos zu Marie!! Aber sie schreibt nicht… vielleicht gibt es im Juni mehr Geschichten von ihr.

Ich denke gerade an meine Freundinnen in Hannover:
Annemarie: ein herzerfrischender Bub, aber doch tief mädchenhaft.
Liesel: in erster Linie ein Mädchen, trotz der furchtbar tragischen häuslichen Verhältnisse immer ihrem Ideal treu. Im Vergleich zu Marie Reichert erscheint sie mir nachdenklicher, weicher, aber zugleich fester in ihrer Überzeugung. Marie hingegen taugt mehr zum Lachen, Scherzen, Laufen und Erzählen von der Schulzeit. Treuer glaube ich ist Liesel.
Koli: durch Schnaß (Scherz) und wohl auch durch Veranlagung nervös geworden, liebt sie mich mit dieser besonderen Gabe, mir Freude zu machen. Am liebsten würde sie immer schenken, schenken. Sie muss einen besonders guten Manne haben, der auch ihre feinsten Empfindungen nachfühlt.
Hilde: ja, Hilde… ein merkwürdiges Mädchen mit einem übermäßig stark ausgeprägten Feingefühl, das bis in die Fingerspitzen reicht. Sie lebt fast nur in ihrer Traumwelt, aus der nur dünne Fäden in die Wirklichkeit reichen. Durch und durch romantisch – ich fürchte, sie wird sich nie wirklich glücklich fühlen. Ihr fehlt der entschlossene Wille zur Tat. Sie vergisst immer zu schreiben, auch wenn sie es sich vornimmt, genauso wie beim Hausaufsatz. Die Schule, das Oberlyzeum (höhere Mädchenschule), muss für sie eine Qual gewesen sein.
Und nun? Wie wird es weitergehen?
Was wird aus ihr – und aus mir?
Ich freue mich sehr, dass wir hier endlich mehr über Hedwigs Freundinnen erfahren – von denen sie ständig spricht, oder Briefe bekommt. Von all diesen Mädchen/Frauen haben wir schon gehört und jetzt erfahren wir, wie Hedwig sie sieht. Aber jetzt habe ich noch viel mehr Fragen!! Wo und wie hat Hedwig ihre Freunde kennen gelernt? Sind sie alle Freundinnen oder kennen sie sich untereinander kaum? Mit wem verbringt Hedwig die meiste Zeit? War sie auch auf der Mädchenschule, wie Hilde? Und noch viel mehr…

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