
Sonntag, den 14. Juni 1925
Alle im Hause sind äußerst liebenswürdig zu mir. Die Sache von gestern ist mit keinem Wort erwähnt worden . Entweder soll sie nun totgeschwiegen werden, oder aber sie haben mich wirklich gern.
Heute kommt wieder Besuch.
Sabinchen sollte ich vorhin in Berggarten sagen, dass ich sie von all meinen Kindern am liebsten hätte. Woraufhin ich mir bei den etwa 120 erst einmal Bedenkzeit erbeten habe.

Es ist komisch – ich kann stundenlang die Bilder in meinem Album anschauen, Vergleiche ziehen: damals und heute. Und eines ist mir klar geworden – ich würde mich heute unbeschreiblich über einen Brief von jemandem freuen, den ich früher eigentlich gar nicht leiden konnte.
Manchmal wünschte ich, ich könnte einen Blick in die Zukunft werfen. Ich kann nicht sagen, dass ich mich unglücklich fühle hier – im Gegenteil. Aber es fehlt mir etwas.
Ich möchte einmal einen Menschen kennenlernen, der mich – und den ich – mehr als alles auf der Welt lieben würde.
Einen, der verstünde, dass ich so und nicht anders handeln kann. Dem würde ich alles erzählen – all meine Liebe schenken, die tief ist wie das Meer.
Aber er dürfte nicht darüber lachen, dass ich mit meinen 23 Jahren noch keinen geküsst habe – und es vielleicht gar nicht verstehen würde.
Aber mich liebt ja keiner…
Ich bin so müde. Ich könnte immer schlafen.
Ferien nehme ich Ende Juli.
Zuerst graut man sich immer vor diesen Abendessen mit fremden Menschen – und nachher ist es nur halb so schlimm. Heute waren da: der Bruder der Baronin, eine alte Tante Ella (auch aus Imlshausen) und Geheimrat Rhenius aus Hannover.
Eigentlich unterhielten sich bei Tisch nur die Herren – über Förster, Landwirtschaft, die Ernte in Celle und Fallingbostel. Doch wie immer war es der Baron, der mich ins Gespräch zog. Da kannte dann der Geheimrat auch Siethr. usw. – und ich fühlte mich nicht mehr so einsam und allein.
Nach dem Essen gingen wir durch den großen Saal ins Herrenzimmer – die Baronin und Tante Ella voran, Mädi und ich folgend, wieder über Bücher sprechend. „Pilger Kamanita“.
Dann kam auch Sabinchen bald nach.

Und nun sitze ich hier. Die Wangen müssen so rot sein wie mein roter Kasack vom Wein. Meine Augen schweifen über den Garten, vorbei an der hohen Tanne, hin zu dem Wald, der sich jenseits der tiefgelegenen Straße erstreckt. Und auch hier kein Halt – dort, wo sich Himmel und Erde berühren, dort sucht meine Seele…
Ja, was eigentlich?
Das Land meiner Sehnsucht? Ist es die rotglühende Heide?
Ich bin zu lange im Hause gewesen. Morgen muss ich wandern.
Meine Augen sollen sich satttrinken an der Sommerwelt. Damit mein Herz endlich still wird.

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