Einsam mit Nietzsche

1–2 Minuten
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Sonnabend, der 20. Juni 1925

„Nietzsches Briefe.“ Das also ist Nietzsche.

Ich muss sagen, dass ich früher eine unbeschreibliche Angst vor ihm hatte – wie vor einem Dämon, der einen unausweichlich zu sich zieht und einem nur übermenschlich erscheint.

Und doch: wie anders erscheint er mir nun in seinen Briefen! Wie kann ich ihn verstehen – ja fast mit ihm fühlen. Da ist sie wieder, diese Einsamkeit, die er empfand wie kaum ein anderer, die ihn ins Äußere trieb, weg von sich selbst und den Menschen.

Warum konnte er es nicht über sich bringen, seiner Liebe zu Wagner etwas von seinem verstandesmäßigen Recht zu opfern? Gerade darin liegt seine Größe – und seine Schuld. An dieser Schuld musste er zerbrechen, weil er eben doch: nur ein Mensch war.

Dieses verhängnisvolle Jahr 1878!

Bis dahin von Begeisterung und Freundesliebe erfüllt – und dann: Menschenverachtung. Das Leid wurde sein Losungswort. Und wie hat er gelitten.

Aber warum dieser bittere Hass auf Jesus und alles, was damit zusammenhängt?
Müsste er sich – wenn ihn nichts anderem – nicht wenigstens durch das Leid mit ihm verbunden fühlen?

Er selbst sagt, er habe sechs Jahre unter der Entfremdung mit Wagner gelitten – eigentlich aber doch sein ganzes Leben.

Und ich frage mich: Muss man, um einen Menschen für immer lieben zu können, in allem mit ihm übereinstimmen?

Ich sage nein! Denn dann könnte man gar keinen Menschen lieben.

Ich komme mir selbst vor, als lebte ich auf einer einsamen Insel, fern von jenen, die ich liebe – und die mich lieben. Und ich sehne mich so sehr nach Liebe. Und nach Sonne. Vor dem Winter hier graut mir schon.

Heute hat Idel meinen Brief bekommen. Was fang ich an, wenn Idel einmal nicht mehr ist? Lieber Gott, lass sie noch lange leben.

In fünf Wochen geht’s heim.

Quelle: https://buecher-dietsch.de/shop/item/9783962815295/friedrich-wilhelm-nietzsche-gesammelte-werke-von-friedrich-wilhelm-nietzsche-e-book-epub

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