

Dienstag, den 20. Oktober 1925
Ruhe.
Alle Arbeit ist getan. In zehn Minuten muss Lotte aus dem Kurier kommen.
Alles stimmt. Nur Geld habe ich keins mehr.
Meine Hüte sind fertig. Heute Abend bekomme ich mein Kleid. Rudchen kommt noch, und Marie Reichert holt mich zum Obstvertrag ab.
Am Sonntag war ich mit Idel im Kino. Dann bei Bürger Beini und abends bei Mühlmeisters. Anne brachte mich heim. Albert hat wieder keine Stelle. Hans Ahlborn fehlte, aber alles ließ mich kühl. Bei ihnen ist es immer nett, sehr gemütlich. Annes Mutter hat viel Ähnlichkeit mit Lotte Schmidts Mutter.
Heute Morgen war ich zum zweiten Mal beim Oberdirektor. Vor 1930 ist keine Aussicht auf eine Anstellung. Nur Vertretung. Also… was mache ich nun?
Kalter Herbsttag. Wenn ich nur daran denke, dann friert mich! Morgen wieder nach Adelebsen. Das ist immer so blödsinnig: Kaum hat man sich irgendwo eingelebt, muss man wieder fort.
Noch Achteinhalb Wochen Schule!
Lottes Brief war nett! Sie vermisst mich schon manchmal. Sie meinte, ich wäre ihr in der kurzen Zeit so viel geworden. Sie freute sich auf unsere gemeinsamen Abende. Nur können sie doch nicht mehr hierherkommen. Das hätte mir auch schlecht gepasst.
Wenn ich nur an Adelebsen denke… wieder dieses Zeremonielle oben, die Tafel, die Blicke vom Baron, das Quälen der Kinder.
Und dann unten auf dem Gut: man lacht und ist lustig, doch alles sind leere Worte, hinter denen man das Innerste verstecken muss, damit andere nicht darüber lachen. Andere, die neben einem sitzen und fragen.
Es war fünf Uhr. Klingeln. Ich denke, Rudchen.
Aber da stand in Leder mit Pelz: Lotte!
Nun waren sie doch noch gekommen! Ich sollte mit in die Stadt – ihre Freundin aus Peine wartete unten, ihr Bruder beim Kröpcke. Ich sah Idel an und ging mit. Wie im Fieber hab ich mich schnell umgezogen. Lotte war wie immer lieb, Marga ist auch verlobt.
Wir gingen in die „Elektra“ – Kröpcke. Da stand er und lachte. Lotte und ich gingen voran, ausgelassen. Es waren so viele Menschen ringsum, die mir alle egal waren. Und die ich doch immer wieder ansah, weil ich ihn nicht zu oft ansehen wollte. Er saß mir schräg gegenüber, und beobachtete mich. Sagte, ich sähe nur mein vis-à-vis, alle anderen nicht. Dann scherzte er mit Marga. Lotte und ich sprachen über Gösta(?) und seine Briefe.
Er freute sich über unsere Freundschaft, meinte, ich würde ihn auch bald „einholen“. Dann wieder dieser Blick – ruhend auf mir. Aber ich wollte ihn nicht ansehen. Gerade nicht!
Die Kapelle spielte „Von Lenz“ und er fragte, ob ich nicht jetzt im Frühling wäre. Und wie der Winter wohl bei mir säße? Den wolle er mir vertanzen. War’s Scherz oder Ernst?
Unten im Ofen prasselte noch das Feuer. Bine schläft unten. Der Baron und Inge sind zusammen. Der Wind heult. Was passiert unten?
„Wie lange wollen wir denn Lotte Urlaub geben?“ fragt er. „Zwei Tage.“ Er teilt ihr den Beschluss mit.
Marga neckte: „Musst du denn deinen Bruder immer erst fragen?“
„Ja“, lachte er, machte Witze. Ich sehe auf die Uhr, denke an Rudchen, Marie und die Schneiderin und doch kann ich noch nicht gehen.
„Sie kommen mir so verändert vor, Fräulein Oltrogge“
„Das bin ich aber nicht.“
„Doch, nicht wahr, Lotte?“
„Nein, sie ist genau wie früher.“
Ich wollte wissen, inwiefern. Er sagte, als ob ich in höhere Sphären schwebte. „Das wird in Adelebsen wohl wieder anders.“
Dann: „Donnerstag ist Lohengrin in Göttingen.“
„Das habe ich schon zweimal in Hannover gehört.“
„Dann werden Sie es in Göttingen nicht hören wollen?“
Marga: „Vier!“ Er schwieg.
Lotte und Marga wollten fahren. Dann meinte er, ich solle wenigstens noch mit ihm zu Abend essen – „Sie haben ja doch was vor?“ Dann telefonierte er, weiß nicht mit wem. Ich merkte, dass ich unruhig wurde. „Ja, ich muss nach Haus.“
Er wollte mich am nächsten Tag am Zug treffen. Nun ist aus all dem nichts geworden. Stattdessen hatte ich ein Erlebnis mit der Fahrkarte. Ich hatte mich versehen und keinen Pfennig mehr. Ich musste bei Frau Haber pumpen. Pfarrer aus Mainz – Gruß von Adolph. Ich steige schon in Northeim aus und wundere mich, dass ich doch noch in Göttingen und schließlich hier gelandet bin.
Hilde Br. wartet an der Bahn, hier sind Bine und Herbert. Alles Laub ist von den Bäumen. Es ist Winter!
Schlimm, dass Lotte nicht hier ist. Ich habe an Rudolf und Idel geschrieben. Ich finde die alberne Karte eben im Portemonnaie. Sicher und verborgen! Könnte mich totlachen!
Morgen Schule. Und nun weiß Idel natürlich auch von ihrem Bruder. Aber nicht, dass ich ihn liebe. Sie war böse, dass ich ihr wieder Rudchen überlassen hatte. Die Schneiderin schickt mir Kleid und Bluse.
Der Baron sagt, ich hätte abgespannt ausgesehen, dabei bin ich gar nicht müde. Wie der Turm die alte Blutbuche schüttelte! Ich bin allein und doch nicht einsam!
Allen Menschen eine gute Nacht.


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