


Montag, den 21. Dezember 1925
Bine ist krank, und ich spiele Krankenschwester. Lotte ist gleich wieder weggegangen. Wie gut, dass sie zu mir kommen kann. Oh Gott, wie danke ich dir, dass du mir diese Menschen geschickt hast! Und auch wenn ich jetzt allein bin, weiß ich, dass sie unten an mich denken.
Ich kann erst übermorgen reisen. Er freut sich darüber, hat er gesagt. Aber ich bezweifle noch, dass sie viel von mir haben werden.
Sonntag, den 20. Dezember 1925
Wenn ich an gestern denke, fällt mir der Vers ein: „Wenn ein durch Liebe Leid geschah, geschah durch Leid auch Liebe ein.“
Wie soll ich diesen Tag beschreiben, der mich bis ins Innerste traf, der mir das Herz zusammenschnürte? Es gab keine Rettung als kniend zu rufen: „Gott, hilf mir!“
Schon der Traum war merkwürdig. Ich erwachte mit Tränen in den Augen und einem schrecklichen Herzweh. „Meine eigene Schwester.“ Ich hatte sie angefleht, von diesem fürchterlichen Mann zu lassen. Sie hörte nicht und er zog den Dolch, um mich zu töten. Ich schrie meinen Schmerz heraus, den Schmerz um meine Schwester. Als ich dann wiederkam, war es schon zu spät. Nie werde ich dieses tiefste Leid vergessen, mit dem ich zu Gott flehte. Dann erwachte ich.
Den ganzen Morgen erlebte ich diesen Traum wieder und konnte nicht froh werden. Und als ich nachts um halb zwei zu Bett ging, da war es kein Traum mehr, sondern Wahrheit. Eine Wahrheit, die mich blutenden Herzens auf die Knie zwang. Meine Arme über das Bett geschlagen, schluchzte ich alles Leid der Welt hinaus. Schlaf fand ich nicht, keinen Gedanken, nur Tränen. Und doch war es nicht um meine Schwester. Es war mein eigenes, bitterstes Erlebnis.
Ein Student hatte zuerst den Weihnachtsmann gespielt, dann war ich hinuntergelaufen. Karten wurden gespielt, ich hatte wunderbares Glück. Er musste mir unaufhörlich das große Los auszahlen.
„Wie die kleine Frau gewinnt!“ scherzte Edam. Frau Schmidt bestaunte mein Glück.
Die Herren kamen auf das Thema „Apollo-Theater“. Ich hätte ihnen keine Ruhe gelassen, bis ich sie mitgebracht hätte. Scheinbar wollte er mir dann zeigen, wie wenig ihm die galten. Ein einfaches Heidelied von mir gesungen, wäre schöner, meinte er. „Von Geschick begünstigt“ nannte er mich, meiner frischen Farben wegen.
Zum Essen wollte man mich gar nicht zurück nach oben gehen lassen. Aber ich hatte es versprochen. Ich wollte danach sofort wieder kommen. Als ich wieder zurück kam, empfing mich Lotte im weißen Kleid.
Während wir alle wieder Karten spielten saß er im Sessel hinter mir und pikste mich mit einer Stricknadel. „Was sich liebt, das neckt sich“, lachte er, als ich ihm die Nadel nehmen wollte. Die Eltern gingen hinauf. da wurde sofort Mokka gemacht. Während ich Bohnen mahlte, stimmte er meine Gitarre. Ich hatte es ihm zwar vorher gezeigt, aber entweder hatte er schlecht aufgepasst oder er war schwer von Begriff. Erst als er mich so ansah merkte ich, dass mein Arm auf seinem lag, aber ich musste ihm doch das Stimmen richtig zeigen.
Und dann bei Mokka kams: So todtraurig wurde ich, dass ich hätte, aufstehen und in die dunkle Nacht hinein laufen mögen zum Weinen. Kein Mann über einundzwanzig lebe ohne Verhältnis, das sei ausgeschlossen, sagten Seide und Edam. „Sonst ist das überhaupt kein Mann.“ Da wurde mir, als ob die ganze Welt dunkel vor Sünde sei. Ich fühlte diese Schuld tonnenschwer auf mir lasten. Während die Männerstimmen erbarmungslos weitersprachen, sahen meine Augen all das Leid derer, die missbraucht und dann weggeworfen wurden.
Kurt Schmidt meinte, ich glaube ihm das noch nicht, aber sicher. Oh, ich glaubte es. Dann holte er mir all die Bilder der Mädchen, nannte mir lachend Namen und zeigte mir sie mir. Wenn er gewusst hätte, wie weh mir sein Lachen tat! „Welche schmutzige Neugier soll dann noch wer geliebt zu werden?“ dachte ich. Ich sah in die leidenschaftlichen Augen dieser Frauen, suchte ihre Seele und litt mit ihnen.
„Mir können alle nur leid tun“, sagte ich.
„Warum? Sie haben es doch gut bei mir gehabt“, meinte er. Nur dadurch könnten die Männer die Frauen kennenlernen und würden so die besten Ehemänner. Er meint, bemitleidenswert ist nur die Frau, deren Mann sich nicht ausgetobt habe.
Ich wollte nicht glauben, dass alle so denken. Ich sah Lotte flehend an, aber sie hatte sich schon damit abgefunden. Ich fand es verheerend.
„Es kommt auf die Art und Weise an.“ Oh, wie schnitten sie mir mit diesen Worten ins Herz. Ich hatte sie doch so lieb, aber jetzt stand ich allein da. Ich sah niemanden an und merkte, dass alle mich beobachteten.
„Warten Sie nur, in ein paar Jahren denken Sie auch anders“, sagte Edam.
„Lassen Sie sie doch, sie ist so viel glücklicher“, und er sah mich an, aber ich konnte nichts mehr ertragen und wurde ganz still.
„Nun wollen wir davon aufhören. Hedy, sing doch ein Lied.“
Mechanisch griff ich meine Gitarre. Aber spielen und singen… Ich konnte nicht. Mein Herz saß mir im Hals. Der Adventskranz wurde an gemacht. Ich setzte mich von den Herren weg. Ganz hinten in den Ledersessel. Lottes Tuch lag über meinem weißen Kleid. Ich war so traurig, dass die bewundernden Blicke der Männer und ihre Worte über meine Schönheit an mir abglitten. Meine Finger glitten über die Saiten.
„Sing doch, Hedy. Wozu hast du denn Stimmung?“
„Zu nichts“, sagte ich.
„Zu nichts“, wiederholte er, der meine Welt so grausam zerstört hatte. Und nun sollte ich singen. Sie lachten.
„Herzblatt am Lindenbaum?“ fragten sie. „Kennt ihr das?“
Ich hörte ihn flüstern, dass ich selbst so ein Herzblatt wäre. Während ich sang, weinte mein Herz. Ich konnte nicht verhindern, dass es wie Schluchzen klang: „Lang ist das Leben, kurz die Maienzeit.“
Ich dachte nur: wäre ich doch tot.
„Das war mit dem Herzen gesungen“, sagte er. „Sie sind im Mai, und ich bin es auch.“
Dann wollte ich gehen, aber er hielt mich fest: „Wir wollen noch einen Tanz. Wir beiden.“
Warum quälte er mich so? Warum ließ er mich nicht?
Wir tanzten.
„Du denkst zu viel“, sagte Lotte.
„Ich kann nicht anders“
Dann wollte er noch so viel wissen: wonach ich mich sehnte, ob ich lieber in Adelebsen oder in Hannover bleiben wollte, und wenn ich ganz frei wäre, was ich mir dann wünschte.
„Eine Reise nach Norwegen… Fjorde, Fjelde, die hellen Nordlandnächte… und dann den Süden.“
„Allein? Das macht doch keinen Spaß. Mit wem?“
„Mit wem?“ wiederholte ich nur. Mein Herz jubelte: Mit dir. Aber meine Antwort gab ich ihm nicht. Lotte saß dabei und hörte zu. Dann erzählte er mir von seinem Schwager Feld und zeigte mir Bilder von allen. Er las mir einen Brief von ihm vor. Wollte er mich auf andere Gedanken bringen?
Um halb zwei ging ich nach Hause, den dunklen Berg hinab. Hinter mir lag die Welt mit ihrem Leid, mit ihrer Luft. Ich wanderte wie im Traum. Reifer an Liebe, Leid und Schmerz.
Schlafen… nicht möglich. Wohl nie habe ich so mit innersten Herzen zu Gott gebetet und geweint ohne Ende.
Am anderen Tage war Bine krank. Ich ging um zehn Uhr in den Flecken Richtung Arzt. Da treffe ich Lotte. Sie kommt mir entgegen und geht mit zur Post. Arm in Arm. Sie sagt, wie leid ich ihr gestern getan hätte. Sie ahnt schon, dass ich nicht geschlafen habe. Ich soll abends vorbeikommen. Gleich nach Tisch lief ich hinunter und erzählte aufgeregt, dass ich noch bleiben müsste. Edam und er freuten sich. Dann kam ein Jude. Lotte und ich gingen ins Esszimmer. Ich stellte mich ans Fenster und sah gegen die dreifache Mauer. Lotte stellte sich hinter mich und presste mich an sich. Als ob sie mich schützen und trösten wollte.


Hinterlasse einen Kommentar