


Sonntag, den 29. März 1925 – Hannover
Eigentlich kein besonderer Tag heute, und doch da ich dieses Buch anfange, weiß ich nicht, was es alles umschließen wird. Ich ahne es nicht.
In vier Wochen werde ich nicht mehr hier sein. Am 1. Mai geht‘s nach Göttingen – Adelebsen. Eine heimliche Angst begleitet mich, wie bei allem Unbekannten.
Vor mir steht die Ansichtskarte. Sie zeigt das kleine Fleckchen mit der Kirche, den niedrigen, langgestreckten Häusern und in der Mitte, umgeben von einer Schlossmauer und hohen Bäumen, das alte Stammschloss mit dem knorrigen, viereckigen Turm, der von längst vergangenen Zeiten erzählt. Dorthin ruft mich mein Schicksal.

Aber vorläufig bin ich noch hier.
Info: Hedwig hatte nach der Ausbildung zur Lehrerin einen Job als Gouvernante der kleinen Sabine im Baronenhaushalt in Adelebsen angenommen. Hiervon handelt der größte Teil des Tagebuchs.
Von der vorletzten Woche muss ich schreiben:
Am 19.03. war, wie jedes Jahr, Rudolfs Geburtstagsfeier. Zum Abend war ich eingeladen. Mäusels Theo war ebenfalls da, und da ich am nächsten Tag meine Abschiedsfeier geben wollte, lud ich Rudolf und Theokrit dazu ein. Im grauen Kostüm mit dem graublauen Hut machte ich mich auf den Weg.
Miese öffnete die Tür. Dann kam Frau Brenneke etwas nach vorne geneigt, immer mit einem Lächeln um den Mund, während sie mir die Hand reichte und dann mit der anderen Hand meine umschloss. Ein Lachen und Rufen war im Gang zu hören – natürlich das Geburtstagskind. Ich gratulierte ihm und wir gingen ins Zimmer. Dort überreichte ich ihm mein Geschenk. Ich frage mich was sie ihm geschenkt hat..
Es ist komisch. Eine ideale Freundschaft ist das zwischen uns auch nicht. Eigentlich ist es gar nichts. Wenn wir mal allein sind, reden wir albernes oder dummes Zeug. Immer ist eine Wand dazwischen. Ich kenne sein wahres Wesen nicht, und er kann meines auch nicht kennen. Niemand bemüht sich wirklich, das zu ändern. Dadurch ist immer etwas Gezwungenes da und ich atme auf, wenn jemand kommt. Doch im Nachhinein wünsche ich mir oft, mal unter vier Augen kräftig mit ihm geredet zu haben. Aber ich habe auch die Befürchtung, dass diese Leute sich zu leicht etwas einbilden, was doch nicht sein kann. 1. Warum kann es nicht sein? 2. Welche Leute genau meint Hedwig hier?
Er zeigte mir seine große Hornbrille, setzte sie sich selbst auf und dann auch mir. Die Erlösung kam in Gestalt von Mäusel. Im Mai soll ihre Hochzeit stattfinden. Sie brachte mich noch die Grimmstraße hinunter und forschte nun, wer noch zu meiner Feier kommen würde. Dann ging ich zu Mühlmeisters.
Wie immer war es gemütlich dort. Wir redeten über Annemarie. Dann lud ich die beiden Jungens ein. Sie kamen von oben herunter. Ich hörte gerade Radio, das heißt es schien Pause zu sein. So kryptisch.. wo ist Pause? Welche Jungens? Wer ist Annemarie?
Ich hatte noch Besorgungen in der Stadt zu machen, und der kleine Fritz Schmidt (einer der Jungens) begleitete mich. Es war ein schöner Gang durch die Stadt. Er hat eine melodische Stimme, die mir gleich gut gefiel. Wie alte Bekannte redeten wir miteinander. Er ähnelt im Wesen Blackert – aber nicht im Aussehen. Sie sind tatsächlich Freunde. Fritz erledigte mit mir alle Besorgungen und trug sogar meine schwere Tasche bis vor die Tür. Dann verabschiedeten wir uns mit dem Versprechen, uns am nächsten Tag wiederzusehen.
Abends bei Brenneke trafen sich alle Freunde von früher. Rudolf und sein Onkel unterhielten die Gesellschaft. Ich habe zwar gelacht, aber nur äußerlich. Es fühlte sich an, als ob alle solche Jungen geblieben sind, wie damals. Ich fühlte mich vereinsamt. Bei Tisch saß ich zwischen Rudolf und seinem Onkel. Mir gegenüber der alte Brenneke, der mir wirklich der Liebste von allen ist – unverfälscht und immer gleich. Helmut sang, schmetterte, jauchzte. Max schlug seine langen Beine über und sah besser aus als sonst. Er wollte nicht Klavierspielen. Der alte Hans Westfal lachte versteckt, ironisiert. Es rief bei mir Erinnerungen an unserer Erstaufführung wach. Rudolf war ein Quirlfritz. Keine Minute saß er still auf seinem Stuhl.
Mit Gesang ging’s heim. Das wäre etwas für Käthe gewesen. Eine Augenblicksstimmung, aber mein Innerstes war völlig unberührt geblieben.
Verwirrend. Wenn ich das richtig verstehe, war sie erst bei Rudolfs Geburtstag bei den Brennekes Zuhause, war dann bei Mühlmeisters, ist dann Unterwegs mit Fritz, um dann Abends wieder bei Brennekes zu feiern. So viele Stunden hat ein Tag doch gar nicht!
Der 20. März
Hilde und Koli hatten abgesagt. Ich hatte das ganze Haus festlich erleuchtet. Die große Tafel war gedeckt und die Bronzeleuchter brannten mit magischem Licht. In meinem roten Kasack (lockeres Shirt oder Bluse) saß ich im Sessel und ließ das Licht und die Wärme auf mich wirken, als Vorbereitung auf den Abend. Draußen Regen und Sturm. Längst war ich aufgestanden und schritt, den Blick auf den Boden, über die weichen Teppiche, als das Klingeln an der Tür ertönte.

Lachen und Schmatzen. Es waren Marie Reichert und Rosp. Letztere sehr manierlich. Noch nicht einmal drei Minuten hatten wir über die Ereignisse des Tages gesprochen, als Marie, Hans Ahlborn und Fritz Schmidt durch ein Klingelzeichen ankündigte. Ich hatte Mühe zwischen uns fünf eine muntere Unterhaltung in Gang zu bringen. Da stürmte Lotte mit der Familie Brenneke herein.
Marie erzählte später, dass Rudchens Gesicht wohl sehr verdutzt gewesen wäre, als er die beiden anderen sah. Zuerst war es eine unangenehme Situation, aber als „Dame von Welt“ oder vielmehr als zwei Mal staatlich geprüfte Lehrerin versuchte ich möglichst schnell, die Spannung zu überbrücken. War doch meine kleine Person der Berührungspunkt all der verschiedenen Menschen, an dem alle Linien zusammenlaufen.
Keine Garantie für irgendeinen Namen. Ich bin mir sowohl bei Koli als auch Rosp unsicher. Ich gehe davon aus, dass Marie Reichert immer mit Nachnamen genannt wird und die kleine Schwester nur Marie. Außerdem bin ich nicht 100% sicher ob Rudolf und Rudchen die selbe Person sind.
Bei Tisch.
Idel, die Gute, sitzt neben Mäusel auf dem Sofa. Marie und Theo, Rosp und Hans Ahlborn, Marie Reichert und Rudchen, Lotte und Schmidt – und ich. Wenn meine Unterhaltung mit Schmidt unterbrochen war, starrte ich auf meinen Teller, und lauschte den anderen. Sie sprachen über Landwirtschaft, Hische mit seinem Psychischen Institut, Theater, etc. Später begann das eigentliche Fest im Nebenzimmer.
Ich lud die Gäste ein, sich zu setzen, und dann kam Rudolf auf mich zu und meinte, die beiden Plätze wären für uns wie gemacht. Warum ich nicht darauf einging, weiß ich nicht, es hätte sicher amüsant werden können. Aber ich dachte an die Beiden, die sich dann sehr einsam und verlassen fühlen würden. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass sie noch immer an den Rand standen. Also ging ich zu ihnen und plötzlich saß ich zwischen ihnen und wir plauderten. Ich fühlte, dass ich dort hingehörte – das waren meine Kameraden. Bei den anderen wusste ich nie, ob sie es im Scherz oder in Frustration meinten. Wer?! Welche Beiden meint sie hier? Hans und Fritz?
Marie war aufgestanden und hatte ihre Zigarette liegen lassen. Ganz mechanisch nahm ich sie und rauchte, ohne zu wissen, was ich eigentlich sprach. Ich dachte an andere Menschen, die auch schon dort mit mir fröhlich gewesen waren.

Eine Bemerkung von Hans Ahlborn weckte mich wieder auf: „Fräulein Oltrogge, rauchen dürfen Sie aber eigentlich nicht, wenn …“
„Sei doch still.“
„Nun, was war das?“ Meine Kameraden ertappte ich auf einem anderen Gebiet. Hä?
„Was ist denn?“, fragte ich, als ich Fritz Schmidts ratloses Gesicht sah.
„Ja, mein Freund hat nämlich immer gesagt: Damen, die rauchen, verachtete er.“
„Oh“, lachte ich auf. „Nun weiß ich ja was ich wert bin.“
„Nein“, verteidigte er sich da. „Jetzt denke ich schon nicht mehr so. Obgleich ich es ja für Damen nicht gern mag.“
Im Herzen teilte ich seine Ansicht und um mich in ein etwas besseres Licht zu rücken erwiderte ich, dass ich sehr selten, eigentlich nie, rauchte – nur aus Sparsamkeit. Dann rief Idel, dass ich die Bowle ansetzen sollte, und – ob ich wollte oder nicht – ich sollte Rudchen dazu rufen. Na, dass ist ihm gut bekommen. Er hat sich dabei mit meiner Schwester angefreundet und sehr viel mehr als das. Der süße Wein wirkte Wunder. Immer sah man die beiden bei der Bowle. Ich merkte wenig davon, während des Abends. Nur ab und zu bemerkte ich Mäusels Unmut über ihren teuren Freier. Mir ist nicht ganz klar, warum sie mich fragte, ob diese beiden mir erwachsener vorkommen als Rudolf…
Ihr könnt alle Zitate von den hier erwähnten Personen im Personenverzeichnis nachlesen. Da ergänze ich immer, wenn neue Einträge veröffentlicht werden. Damit hoffe ich besseren Überblick über die Leute zu bekommen, mit denen Hedwig damals befreundet war.
Das war der erste Eintrag. Leider dauert es bis zum Nächsten noch einen Monat. Dann geht es aber Schlag auf Schlag. Sobald sie in Adelebsen ist, schreibt sie fast jeden Tag ins Tagebuch.

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